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Thilo Schwer

Professor für Produktsprache und Produktdesign
Hochschule für Gestaltung Offenbach

Kurzbeschreibung

Wir sind heute an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und ich freue mich, Thilo Schwer begrüßen zu dürfen. Bei der Recherche zu Ihrer Person fiel uns besonders Ihre vielschichtige Vita auf, welche sich vor allem im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis bewegt. Sie haben Grafik und Produktgestaltung an der Schule für Gestaltung in Basel und hier an der HfG Offenbach studiert, Sie sind Mitbegründer des mehrfach ausgezeichneten Designstudios „speziell“, auch hier in Offenbach, und Sie haben am Institut für Kunst und Designwissenschaften der Folkwang Universität Essen promoviert. Der Titel Ihrer Dissertation lautet Produktsprachen. Design zwischen Unikat und Industrieprodukt. Seit fünf Jahren sind Sie durch einen Lehrauftrag hier zurück an Ihrer ehemaligen Wirkungsstätte. 2018 haben Sie zusammen mit Prof. Dr. Siegfried Gronert den Sammelband Designkritik herausgegeben. In diesem Buch wird versucht, die Frage zu beantworten, wie man einen erweiterten, manchmal auch widersprüchlichen Designbegriff reflektieren und vermitteln kann. Aktuell findet sich in Ihrer Veröffentlichungsliste ein weiteres Buch, Position des Neuen. Seit 2019 sind Sie einer der Vorsitzenden der GfDg, der Gesellschaft für Designgeschichte. Sie füllen also ziemlich viele Rollen aus. Die eines Produktdesigners, eines Dozenten, eines Beraters und auch eines Gründers. Heute interessiert uns besonders die Rolle des Designtheoretikers.

Das Gespräch mit Thilo Schwer führte Niklas Münchbach am 15.10.2019 an der HfG Offenbach.

Motivation

Was veranlasst Sie dazu, in diesem Tätigkeitsfeld zu arbeiten, also in der Designtheorie?

Während meines Studiums an der Schule für Gestaltung in Basel (Vorkurs A, Basiserweiterungsklasse Raum und Körper) stieß ich in der dortigen Bibliothek auf das Buch „Design. Geschichte Theorie und Praxis der Produktgestaltung“ von Bernhard E. Bürdek. Die darin vorgestellte designtheoretische Sichtweise faszinierte mich nachhaltig. Darum wechselte ich für mein weitere Studium an die Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Die damaligen Professoren Jochen Gros, Richard Fischer, Dieter Mankau und Bernhard E. Bürdek verwoben im Rahmen des Offenbacher Modells die Designpraxis mit der Designtheorie. Ein für mich auch aus heutiger Sicht spannendes und Zukunft fähiges Lehrkonzept.
Mit dem Einstieg ins Berufsleben – zunächst bei einem Büromöbelhersteller und dann im Rahmen der Gründung des Designstudios „speziell“ mit Sybille Fleckenstein und Jens Pohlmann – rückte die theoretische Auseinandersetzung zunächst in den Hintergrund. Doch die übergeordnete Reflektion von Gestaltung fehlte mir, so dass ich mich zu einer Promotion in den Designwissenschaften entschied. Mit Frau Professor Dr. Cordula Meier vom Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Folkwang Universität der Künste und Frau Prof. Dr. Birgit Richard von der Goethe Universität in Frankfurt erhielt ich viele wichtige Impulse: zur Designgeschichte und -theorie, aber auch zu Feldern wie der Jugendkulturforschung und der Medientheorie. Eine spannende Zeit, in der ich auch erste Erfahrungen in der Lehre sammeln durfte.
Nach meiner Promotion erhielt ich an der HfG in Offenbach einen Lehrauftrag. Im Grund- und Hauptstudium unterrichte ich seither Theorien der Produktsprache und Design Methodologie. In meiner Lehre versuche ich, Theorie und Praxis sehr eng zu verschränken und mit den Studierenden eine differenzierte Sprachfähigkeit zu erarbeiten. Denn nur durch das präzise Benennen aller Gestaltungsaspekte kann das Design seine Zukunftsentwürfe einem kritischen Diskurs zugänglich machen. Und dies nach erfolgter Praxis, aber auch vor und während der Designpraxis.

Designbegriff

Das hört sich nach einer Achterbahnfahrt zwischen Theorie und Praxis an. Die Designtheorie wurde Ihnen schon akademisch in die Wiege gelegt, weshalb Sie sich wahrscheinlich schon das ein oder andere Mal mit dem Begriff des Designs auseinandergesetzt haben. Können Sie Ihr Verständnis von Design für uns in wenige Sätze fassen und Ihren Designbegriff erläutern?

Das ist nur vordergründig eine einfache Frage: Was ist der Designbegriff? Denn daran lässt sich der Wandel der Disziplin und der Zusammenhänge, in denen Design entsteht, vielschichtig entfalten. Heutzutage wird daran wieder sehr intensiv gearbeitet, da der Designbegriff, der sich über Jahre fast ausschließlich auf die Gestaltung physischer Objekte bezog, zunehmend ins Wanken gerät. Nach wie vor liegt ein zentraler Aspekt des Designs darin, bestimmte Bedeutungen, Zusammenhänge und soziale Kontexte über die Sinne erfahrbar zu machen. Das gilt jedoch nicht mehr nur für rein visuelle Formen in der klassischen Produkt- oder Objektgestaltung, sondern vor allem für Prozesse. So muss man sich im Feld der Mobilität beispielsweise Übergangsbereiche genau betrachten: Welche Erfahrung mache ich da? Wie nehme ich Mobilitätsräume wahr? Wie ist der Übergang von einem Mobilitätsangebot zum nächsten gestaltet?

Eine solche Lösung kann nicht mehr an Einzelobjekten festgemacht werden, sondern wird stark von den Abläufen und Wechselwirkungen geprägt. Egal ob im Bereich der Signaletik, den vorgegebenen Parametern, Gerüchen, haptischen Einflüssen, Geräuschen oder der Raumwahrnehmung. In diesem Falle ist der Designbegriff also weit gefasst.
Vor einigen Jahren habe ich mich in meiner Dissertation mit dem Spannungsfeld zwischen Unikat und Industrieprodukt auseinandergesetzt. Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich die Designpraxis der materiellen Artefakte heute. Auf der einen Seite gibt es Produkte, die man dem funktionalistischen Paradigma eines einheitlichen „Weltdesigns“ zuordnen könnte. Wir haben alle Smartphones, die sowohl in Asien, Europa und Amerika flächendeckend verwendet werden. Auf der anderen Seite haben wir neue Möglichkeiten der Produktion, mit denen in Losgröße 1 gefertigt werden kann. Als Studierender habe ich an einem Forschungsprojekt zu diesem Thema mitgearbeitet, damals noch unter dem Stichwort Mass Customization. Dabei ging es darum, welche Herausforderungen sich an das Design ergeben, wenn nicht mehr nur Großserien entworfen werden, sondern durch computergesteuerte Produktionsmaschinen ohne höhere Kosten die Gestaltung von Unikaten möglich ist. Im Möbelbereich war das damals vorkommen neu. Daher stellte sich die Frage, wie man diese Möglichkeiten mit Inhalten füllen könnte, um nicht nur Variationen eines Produktes herzustellen, sondern auch neue Bedeutung und Sinnhaftigkeit für die Konsumenten zu erzeugen. Mit der generativen Fertigung und dem parametrischen Gestalten ist man heute natürlich sehr viel weiter. Die Frage, inwieweit man Einfluss auf letztlich produzierten Gestaltungsergebnisse hat, ist beim Entwickeln einer solchen Systematik kaum zu beantworten.

Ein weiterer Bereich, der mich in diesem Rahmen sehr stark interessiert, ist die Aneignung von Objekten: also wie die Gestaltung von den Nutzenden weitergeführt wird. Man hat einen Gegenstand, der bestenfalls in einer hohen Qualität gestaltet ist, den man durch verschiedene Zusatzaccessoires ergänzt. So beginnt man, sich dieses Produkt anzueignen, um es an die eigenen Anforderungen anzupassen. Bei einem iPad reicht das beispielsweise vom passenden Stift, der Tastatur über das Hintergrundbild bis hin zu den installierten Apps. So wird ein Industrieprodukt, das zu Beginn uniform ist, in etwas Persönliches übersetzt, es wird zu etwas Bedeutungsvollem für die eigene Person.

Mit Bezug auf den Designbegriff stellt sich in diesem Kontext zusätzlich die Frage, wo künstlerische Position beginnen. Gerade wenn man das Neue deutsche Design oder Memphis sieht. Hier wurde versucht, mit der damals übermächtig erscheinenden Designtradition des Funktionalismus zu brechen und Impulse einzubringen. Gestaltung sollte mehr sein als nur rationale Planung. Diese wichtigen Impulse haben die Disziplin weitergebracht und zu einem Umdenken geführt. In den 70er Jahren ergaben sich daraus erste Ansätze zum Recyclingdesign. Hier stand die Frage im Raum, ob es reicht, Objekte aus recyclingfähigen Materialien zu machen, oder ob eine neue Werthaltung gegenüber Objekten notwendig ist, um eine Veränderung herbeizuführen.

Ich glaube, heute bzw. zukünftig sollte sich das Design von seiner Zentrierung auf das Individuum mit seinen Bedürfnissen lösen. Wichtiger wird zu überlegen, wie Design für möglichst große Teile der Bevölkerung zu einem sinnvolleren Alltagsleben führen kann.

Dies kann sich dann natürlich auch wieder in einem komplett individualisierten Produkt widerspiegeln. Wir kennen das ja mittlerweile, nicht zuletzt von Google, wo jedes Suchergebnis sehr an unsere antizipierten Interessen angepasst wird. Sprich: mit jedem Computer habe ich aufgrund der Historie beim gleichen Wort unterschiedliche Suchergebnisse. Genau da kommt der Punkt, an dem man sich, als DesignerIn fragen muss, wie kann ich eben diese Komplexität vermitteln? Geht es immer nur darum, Dinge einfach zu machen, ähnlich wie es bei der Kodak Kamera mit der Einknopfbedienung war? Durch die Datenauswertung und Vernetzung, die wir heute haben, hat Design eine neue, wichtige Rolle. Design muss digitale Spuren so darstellen, dass bewusste Entscheidung getroffen werden können. Es gibt sicher andere Möglichkeiten, wie Gestaltung Komplexität vermitteln kann, sie handhabbar machen kann. Es kann nicht nur darum gehen, Zusammenhänge in den Hintergrund treten zu lassen im Sinne einer einfachen Bedienung.

Im Sinne Luhmanns würde ich Sie gern noch ein bisschen genauer festnageln. Ihre Dissertation ging unter anderem über die Systemtheorie, dort gibt es den Begriff der Codes. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wären Ihre Codes für Design das sinnliche Erfahren und das nicht sinnliche Erfahren?

Das ist ja immer die Frage bei dem Designbegriff, was gehört alles zu Disziplin, welche Tätigkeiten werden wir als Gestalter in Zukunft haben oder kennen müssen, um uns in diesem Feld bewegen zu können, um bewusst die bekannten Grenzen auszuloten und für die Zukunft zu gestalten. Das ist natürlich das, was alles das Design ist. Wir werden häufig programmieren, wir werden zukünftig wahrscheinlich auch dazu übergehen, nicht nur eigenes Wissen anzuwenden, sondern auch in Teilbereichen maschinelles Lernen mit zu trainieren oder zumindest Parameter mit einzubringen. Das Spezifische am Design ist der Umgang, wie man etwas erfahrbar macht und wie man etwas vermittelt. Hierzu gibt es den Gedanken von Wolfgang Jonas, der Machen / nicht Machen als Code für das Entwerfens sieht. Dies ist eine wichtige Position im ganzen Entwurfsprozess, da es schnell politisch werden kann. Denn ich entscheide, welchen Weg ich beim Entwerfen einschlage und welchen nicht. Trotzdem liegt die Zentrale für mich darin, Zusammenhänge, Werte etc. sinnlich erfahrbar zu machen. Dies kann auch über Pausen oder einen Rhythmus erfolgen. Wenn ich beispielsweise eine KI trainiere und diese KI nie mit dem Nutzer in eine Art von Kommunikation oder Wechselwirkung tritt, dann ist das nach meiner Auffassung kein Design im engeren Sinne.

Also das sinnlich erfahrbar Machen und das nicht sinnlich erfahrbar Machen?

Ja genau, da ist natürlich auch das Machen und nicht Machen mit integriert.

Der Designbegriff, den Sie gerade für uns formuliert haben, ist fluide und in Bewegung. Er kann also nicht festgezurrt werden, weil die Umstände, die Gesellschaft und die Umgebung ihn immer neu konstituieren. Kann er daher auch nicht final formuliert werden?

Nein. In der Geschichte wurde der Designbegriff sehr lang mit dem Kunsthandwerk in Verbindung gebracht. Irgendwann gab es dann die Arbeitsteilung, durch die man als DesignerIn eher im planerischen Bereich tätig wurde. Durch die Umbrüche der letzten Jahre muss sich auch der Designbegriff weiterentwickeln. Gerade wenn man sich Gedanken zum maschinellen Lernen oder künstlicher Intelligenz macht. Dabei werden Objekte nicht nur visuell oder haptisch verfügbar, sondern ergreifen die Initiative, deuten unser Verhalten und interagieren. Durch unsere Mimik beispielsweise können Emotionen erfasst werden, so entsteht eine wechselseitige Kommunikation, aber letztlich auch eine neue Form der doppelten Kontingenz. Daher werden wir mit diesen Maschinen anders umgehen als mit bisherigen Apparaten.

Ein heiß diskutierter Punkt in der Designtheorie spielt sich rund um die Begriffe Produkt und Kommunikationsdesign ab. Wir interessieren uns dafür, ob Ihr Designbegriff Kommunikationsdesign inkludiert?

Ja, ich glaube, man kann das mittlerweile nicht mehr trennen. Jedes Objekt – das Smartphone ist sicher das beste Beispiel dafür – wird nur zu einem schlüssigen Produkt, wenn diese Teile ineinandergreifen. Heute ist ein gutes Produkt alles zusammen, es ist nicht mehr nur ein Resultat der Form oder der grafischen Schnittstelle. Die Gegenstände sind vernetzt, nicht mehr in sich abgeschlossen, sondern bilden einen ganzen Kosmos ab. Und dem User Interface – egal, ob sprachlich oder visuell – kommt für die Interaktion eine bedeutende Rolle zu. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Produktgestaltung an Bedeutung verliert. Wenn man sieht, wie häufig Leute das Smartphone in der Hand drehen und eben nicht nur auf den Screen schauen. Alle gestalteten Formen des sinnlich Erfahrbaren gehören in der Betrachtung zusammen. Ähnliches gilt beispielsweise für die Mobilität, bei welcher man nicht nur ein PKW oder Elektroscooter isoliert sehen sollte, sondern es als Bestandteil eines Gesamtsystems betrachten muss.

Theorie & Praxis

Ich denke, wir haben jetzt einen ganz guten Eindruck davon bekommen, was Design momentan für Sie bedeutet und wo sie Veränderung wahrnehmen können. Daher kommen wir zum nächsten Bereich, nämlich dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis. Wie würden Sie das derzeitige Verhältnis zwischen Theorie und Praxis beschreiben?

Natürlich ist es immer schwierig, so etwas ganz allgemein zu beschreiben. Schaut man, welches Gewicht die Theorie in der Lehre hat, dann ist es so, dass es an vielen Hochschulen in der Regel vier bis fünf Entwurfsprofessuren gibt und mittlerweile häufig nur noch eine Professur, die Designgeschichte und -theorie abbildet. Man erkennt daran, dass der Praxis lange Zeit bei Berufungen ein sehr hoher, fast ausschließlich relevanter Stellenwert eingeräumt wurde. Theoriestellen wurden hingegen durch hochschulpolitische Entscheidungen abgebaut. Hier in Offenbach haben wir ein sehr großes Theorieangebot, das ist schon etwas Besonderes. Schon in den 1970er Jahren wurde die Umwandlung von einer Werkkunstschule in eine Hochschule vollzogen. Eine Besonderheit liegt im theoriebasierten Modell, welches hier entwickelt wurde und das gesamte Curriculum geprägt hat: die Theorie der Produktsprache bildete den Rahmen der Ausbildung. Als ich hier anfing zu studieren, hatten wir drei Hybridprofessuren, die gleichzeitig Theorie und Praxis unterrichteten. So wurde die Reflektion über Gestaltung mit der Entwurfstätigkeit verschränkt.

Auch heute haben wir ein sehr breites Theorieangebot mit Designgeschichte und Designtheorie bei Professor Dr. Klaus Kempf, Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik bei Prof. Dr. Martin Gessmann und ich im angewandten Bereich der Designforschung mit der Theorie der Produktsprache und Entwurfsmethodik. Zusätzlich gibt es Professuren, die forschen sowie für beide Fachbereiche Theorieangebote bereitstellen. Die theoretische Auseinandersetzung genießt an der HfG also einen besonderen Stellenwert.

Ich denke, wir befinden uns aktuell durch all die Umbrüche und bei all dem Neuen in einer ähnlichen Phase wie in den 1968er bis 1975er Jahre, als Gestalter merkten, dass die Herausforderungen zu komplex wurden und man nicht mehr als „Einhand-Designer“ Lösungen entwickeln konnte. Daher wurde damals in immer größeren interdisziplinär zusammengesetzten Teams gearbeitet. Heute ist das wieder so, bei Herausforderungen wie Klimawandel und immer komplexer werdenden vernetzten Technologien mit AI. In diesem Rahmen wird die Sprachfähigkeit über das eigene Tun und das Verständnis für die eigene Profession für eine gelingende interdisziplinäre Kooperation immer wichtiger. Um eine bedeutende Rolle in einem solchen Team zu begründen, muss erkennbar sein, wo genau die Kompetenz eines Gestalters liegt. Also wo nur er Wissen einbringen kann. Die Argumentation, welcher Aspekt der Gestaltung im jeweiligen Fall von Bedeutungen ist und welche Wertmaßstäbe mit welcher Form verknüpft sind, spielen dabei eine essenzielle Rolle. Beim öffentlichen Nahverkehr beispielsweise stellt sich die Frage, wie man durch die Gestaltungs- und Servicequalität eine ähnliche Wertigkeit wie im Individualverkehr generieren kann. So etwas kann in großen Teams mit eingebracht werden. Es wird außerdem immer wichtiger, Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsbereichen in ein Wertesystem zu überführen, welches die Basis gestalterischer Entscheidungen ist. Die Entwurfs-Praxis sollte also einen erforschenden Charakter bekommen, da die Probleme heutzutage so vernetzt sind, dass man ihnen anders nicht mehr Herr werden kann.

Momentan werden die Entwicklungszyklen immer kürzer, es werden ständig neue Produkte auf den Markt gebracht, dass halte ich für falsch. Wir sollten sehr viel länger entwickeln und in diesem Rahmen intensiver über Dinge nachdenken. Welche Konsequenzen ergeben sich aus Technik, Nutzung oder Material? Man sollte schon zu Beginn reflektieren, was mit dem Produkt nach dem Product Lifecycle passiert. Das könnte auch zu einem größeren Innovationsschub führen. Hierfür wäre es wichtig, durch die Theorie ein Handwerkszeug zu bekommen. Prof. Dr. Martin Gessmann hat hier an der Hochschule gerade einen Theorieangebot vorgestellt, bei welchem es darum geht, Komplexität durch Statistik, Heuristik und Hermeneutik zu erschließen, um so zu fundierten Entscheidungen zu gelangen. Wenn man in einem Projekt beispielsweise mit Psychologen oder Soziologen arbeitet, gibt es verschiedene Interpretationshorizonte. Um eine gute Gestaltungslösung für die Nutzenden herbeiführen zu können, muss man vermitteln können, welcher Bereich, welche bedeutungsvollen Gestaltungsmittel oder welche Wertesetzung für den Kontext angemessen sind.

Ich habe jetzt aus Ihrer Antwort schon herausgehört, dass Sie dem Einfluss der Designtheorie auf die Praxis einen ziemlich hohen Stellenwert zuschreiben würden. Einerseits wegen den Kompetenzen und Kenntnissen, die man durch die Beschäftigung mit der Theorie erwirbt, andererseits die Anschlussfähigkeit, die bei komplexen Problemen immer essenzieller wird. Ist es so, dass Sie einen starken Einfluss der Designtheorie auf die Praxis beobachten können, sowohl an Ihrem Arbeitsplatz als auch in Ihrem akademischen Alltag?

Das Interesse bei vielen Studierenden am Machen, also an der gestalterischen Tätigkeit, ist zunächst einmal sehr groß. Doch durch die verschiedenen Aspekte, die in Theorieveranstaltungen vermittelt werden, kann sich der Blick der Studierenden sehr stark weiten. Letztes Semester diskutierten wir beispielsweise den Standpunkt des Designs zur Postwachstumsgesellschaft. Design ist untrennbar mit dem Neuen verhaftet und will im besten Fall Innovationen schaffen, also kommerziell verwertbare Neuartigkeit. Wir sprachen über das Problem der Ungleichheit und dass wir in unserer Gesellschaft etwas umstellen sollten. Denn der Wachstumsimperativ der Moderne sollte nicht das einzige Modell darstellen, in dem wir uns zukünftig sinnvolle Arbeit vorstellen können. Das stellt natürlich viel von dem, was man tut und konsumiert, in Frage. Das bedeutet aber nicht, dass man deshalb seine gestalterische Tätigkeit als solche negieren muss. Vielmehr sollten wir reflektieren, wie sich das Design und die individuelle Praxis verändern müssen, um in diesem Kontext nach ethischen Maßstäben arbeiten zu können. Schon Victor Papanek formulierte Ansätze zur Frage, wie man abseits von den beschleunigten Rhythmen der Produktzyklen als Designer arbeiten könnte. Seine Thesen sind heute noch genauso aktuell und von Interesse wie zur damaligen Zeit. Smartphones beispielsweise haben mittlerweile Jahres- und nicht mehr Zweijahreszyklen, einige Produzenten gehen schon zu Halbjahreszyklen über. Es ist normal geworden, Verträge abzuschließen, bei denen man alle paar Jahre sein Handy wechselt. Bei vielen Konsumgütern sind wir trotz all der Probleme, die uns eigentlich klar sind, in unserem Alltag stark in solchen Praktiken verhaftet. Da gilt es, mal einen Schritt zurückzugehen und sich zu überlegen, welchen Gewinn man durch die immer kürzeren Entwicklungszyklen eigentlich hat. Auf der Möbelmesse in Mailand beispielsweise sind kaum mehr Neuheiten zu finden. Welche neuen Wohnszenarien werden denn heute noch vorgestellt? Das meiste ist lediglich eine Variation von Gemütlichkeit im weitesten Sinne. Ich glaube, hier braucht es wieder einen etwas längeren Blick und vielleicht auch einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs, wie Wohnen sich verändern könnte. Ähnlich wie beim Neuen Frankfurt, wo ganzheitlich gedacht wurde und anstehende Probleme unter Zuhilfenahme unterschiedlichster Disziplinen mit einer Vision verknüpft wurden. Hierdurch konnte dem damaligen Wohnproblem mit einer hohen Qualität begegnet werden. Natürlich ist es so, dass beim Neuen Frankfurt durch die Gebäude, die Architektur, die abgestimmten Möbel eine Bevormundung stattfand. Die alten Möbel passten nicht mehr ins Bild. Aber in der Gesamtheit ist dort für eine breite Masse – in sehr kurzer Zeit – viel erreicht worden. Das ist für mich bis heute einen Ansporn, der zeigt, dass man sich nicht immer nur mit Detaillösungen beschäftigen sollte, sondern seine Arbeit in einem größeren, globalen, gesellschaftlichen Rahmen verorten muss.

In Zeiten, in denen Ausdrücke wie MVP umher schwirren, die Leute stark auf das Silicon Valley fixiert sind und jeden Tag neue Produkte auf den Markt geschmissen werden, sind Sie der Meinung, wir brauchen längere Produktionszyklen und müssen stärker reflektieren. Wenn diese Reflexion eine immer wichtigere Kompetenz für uns Gestalter wird, um tatsächlich gutes, langlebiges Designs zu machen, müssen wir das dann nicht eigentlich lernen?

Ja, wobei ich mich fragen würde, ob das etwas Neues ist. Man merkt bei den Studierenden, dass es mittlerweile ein sehr großes Interesse gibt, sich auch kritisch mit der eigenen Disziplin auseinanderzusetzen. In den 70er Jahren wurde das auch gemacht, man hat das Design als kommerzielle Praxis infrage gestellt und sich im Rahmen der Ölkrise gefragt, was man als Gestalter überhaupt noch machen kann. Neben der Möglichkeit, einfach nicht mehr als Designer zu arbeiten und sich in andere Bereiche zu begeben, gibt es noch die, einen größeren Blickwinkel einzunehmen und sich die Frage zu stellen wie Veränderungen herbeiführt werden können. Das ist eine Perspektive, in der man als Designer handlungsfähig bleibt. Das Reflektieren ist immer auch im Kontext mit der konkreten praktischen Arbeit wichtig und sehr sinnvoll. Es muss nicht unbedingt komplett neue Formate in der Lehre geben, es kann Angebote geben wie Ethik im Design oder ähnliches. Aber ich glaube, diese müssen immer sinnvoll in eine Gesamtausbildung eingebettet sein. Man muss da Impulse setzen. Ich denke, hier an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach gibt es erste Ansätze, die bewusst von Studierenden genutzt werden können. Ich weiß gar nicht, ob es so sehr abseits des Bisherigen sein muss. Denn man kann auch sehr stark durch eine Fokusverschiebung und dadurch, wie man sich Wissen aneignet, in die kritische Auseinandersetzung kommen. So bezieht man sich nicht nur auf das singuläre, sondern behält das größere System im Auge, für welches entworfen wird. Das Critical Design entwirft Kritik nicht nur sprachlich oder verbal, sondern über Produkte. Auch das ist ein legitimes Mittel, um Diskussionen anzuregen. Wir haben hier an der HfG auch Design Curating im Angebot. Die Darstellung von Design in seiner Wechselwirkung mit der Gesellschaft bietet erweiterte Möglichkeiten, um Diskussionen in Gang zu bringen.

Wir haben momentan das Gefühl, dass sich in der Designtheorie einiges tut. Wie erleben und bewerten Sie denn gerade die Situation aus Sicht eines Theoretikers?

Wenn man die Entwicklungen im Moment sieht, die verschiedene Nachrichten, die wir bekommen, sind sehr große Veränderung zu beobachten. Auf der einen Seite sind zunächst einmal positive Veränderungen im privaten Bereich durch soziale Netzwerke zu vermerken. Bei diesem neuen Bereich der Ausdrucksformen merkt man jedoch, mit steigendem kommerziellem Einfluss, dass diese Dinge manipulativ werden können. Daher wird dieser Raum immer stärker kritischen Reflexionen unterzogen. Ist es ein Raum, in dem alles geäußert werden kann, oder muss es hier genauso Regeln oder bestimmte Standards geben wie in den Massenmedien? Durch das höhere Maß an Öffentlichkeit merkt man schon in Alltag- oder Kommunikationserfahrungen, dass man mit Bedacht vorgehen sollte. Gerade wenn man sieht, was für Möglichkeiten in den Big Data Auswertungen zukünftig auf uns zu kommen und wie stark diese unser Leben beeinflussen: von der Routenauswahl bis hin zur frühzeitigen Auswertung von Krankheitsbildern. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Spuren wir im Netz und auch in unserer Umgebung hinterlassen, durch das Mitführen und Nutzen der Dienste auf Smartphones, ist ein sehr großes Potenzial der Datennutzung und des Nutzerkomforts zu erkennen. Auf der anderen Seite muss man genauso fragen, um welchen Preis das geschieht und wie sich dieser Preis so darstellen lässt, dass es den Nutzern bewusster wird als es heute der Fall ist. Also, dass man nicht nur ein Google-Ergebnis hat, sondern auch dargestellt bekommt, wie der Algorithmus justiert wurde, um den Anschein der objektiven Abbildung von Wirklichkeit zu vermeiden. Ich glaube, es gibt einige Dinge, bei denen wir trotz der positiven Wirkungen von Technik merken, dass es einen Punkt gibt, ab dem Systeme nicht nur Vorteile bringen, sondern das Ambivalente, Negative genauso mit eingeflochten ist. Darüber machen wir uns momentan viele Gedanken. Hinzu kommt natürlich noch die Stofflichkeit der Produkte, welche mittlerweile zum Glück immer mehr in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rückt. Welche Materialien in den Smartphones oder anderen Elektronikartikeln verbaut sind, wie Rohstoffe gewonnen werden, wo unser Elektronikschrott entsorgt wird. Das sind Fragen, die heute sehr wichtig sind. Adidas beispielsweise versucht, Laufschuhe in einen Kreislauf mit einer Quote von annähernd 100%, überführen zu können, um diese Art von Konsum nachhaltiger und lokaler zu gestalten.

Mittel & Methoden

Sie sprachen von der Ambivalenz, die mit den digitalen Zeiten einhergehen. Mit welchen Mitteln und Methoden können wir als DesignerInnen dieser Ambivalenz entgegenwirken?

Dazu können wir beitragen, indem wir Werte, Funktion und Inhalte vermitteln und wahrnehmbar machen. Gert Selle spricht davon, dass das Design nicht nur Fetischobjekte wie das Smartphone gestalten sollte, sondern auch die Gesten, Rituale, und Handlungen im Blick behalten muss. Auf der anderen Seite muss man auch hier wieder stärker über die Differenz Machen / nicht Machen seiner Tätigkeit reflektieren. Zunächst sollte geklärt werden, welche Wertebasis man bei einem Produkt vertritt, für wen das Produkt ist und wer davon profitiert. Manche Dienste können so gestaltet werden, dass sowohl ein Unternehmen als auch die Gesellschaft davon profitiert. Ich denke, es ist möglich, die Widersprüche der Nutzerinteressen und der kommerziellen Rahmenbedingungen handhabbar zu machen. Das geschieht durch eine Gestaltung, die sich nicht nur mit Styling beschäftigt. Man sollte das Gesamtsystem im Blick behalten und im Interesse von Gesamtnutzen und Gesellschaft gestalten.

Können wir GestalterInnen das überhaupt alleine bewerkstelligen, oder spielt Transdisziplinarität dabei eine Rolle?

Wir können als Designer nicht alleine die Welt retten, auch wenn wir uns das immer wieder gerne einreden bzw. diskutieren. Zu dieser Sichtweise ist Papanek ein guter Einstieg. Man kann seine Disziplin immer wieder infrage stellen. Doch das ist wenig zielführend. Über die Sprachfähigkeit ist es in Projekten möglich, gemeinsame Wertesysteme zu entwickeln, auch mit den Methoden aus der Theorie. Genau das sind die Voraussetzungen für eine transdisziplinäre Zusammenarbeit. Der Begriff der Umweltgestaltung, bei dem man immer alle Aspekte mit berücksichtigten wollte, führte allerdings beim Gestaltungsprozess auch nicht unbedingt zu einer effektiven Handlungsfähigkeit. Darum ist es wichtig, entwurfsbezogen zu denken und zu handeln. Allein über das Einbeziehen vieler Aspekte funktioniert das nicht, man muss einen Konsens aushandeln, wo man hinwill und diese Richtung dann auch verfolgen. In einem deliberativen Prozess ist es möglich, Konsensfähigkeit herzustellen. Design sollte dabei jedoch nicht nur eine Moderatorenrolle spielen, sondern spezifische disziplinäre Kenntnisse in die Diskussion einführen, um einen wesentlichen, inhaltlich relevanten Beitrag zu leisten.

Sollte Transdisziplinarität eine verstärkte Rolle in der Designlehre spielen?

Wir müssen uns zunächst einmal über das, was wir in diesen Prozess als Disziplin und als DesignerIn Spezifisches miteinbringen können, klar werden. Erst dann können wir transdisziplinär interessante Gesprächspartner für Andere werden. Genau wie ein Arzt oder ein Chemiker muss für uns klar werden, welches Fachwissen wir haben, wo Schnittmengen zu anderen Disziplinen zu finden sind und wo man als DesignerIn die Expertenrolle übernehmen kann.

Hätten wir diesen Fahrplan, wäre dann der nächste Schritt eine Transdisziplinarität in der Lehre zu fördern?

Ich glaube, es ist sinnvoll, in der Designlehre möglichst viele Kenntnisse zu vermitteln. Zunächst müssen wir Könner bzw. Experten in einem spezifischen Bereich sein. Zusätzlich ist es relevant, in anderen Bereichen Kenner mit dem nötigen Kontextwissen zu sein. Oder wir müssen zumindest die Methoden kennen, um uns dieses Kontextwissen schnell anzueignen. Nach meinem Dafürhalten ist es heute durch diese großen Spezialisierungen nicht mehr möglich, den gesamten Designbereich in einem Studiengang abzubilden. Es gibt Schwerpunkte, wie beispielsweise das Design Curating, welches eine ganz andere Wissensbasis benötigt als ein Design für KI-basierte Systeme. Hier entstehen andere Schnittstellen zu den Disziplinen als beispielsweise beim technischen Produktdesign. Ich glaube, man muss auf der einen Seite ganz weit aufmachen, um viel zu entdecken. Trotzdem darf man sich nicht verlieren. Zentral ist, im gestalterischen Bereich das nötige Handwerkszeug so intensiv zu erlernen, dass man die Sicherheit hat, um in transdisziplinären Teams etwas Relevantes einbringen zu können.

Sind diese Voraussetzungen an der HfG Offenbach erfüllt?

Aus meiner Sicht kann man nie abschließend sagen, dass sie erfüllt sind. Denn das ist eine kontinuierliche Entwicklung, die immer wieder neu zu justieren ist. Wie sollen neue Lehrangebote formuliert, wie didaktisch adressiert werden? Ich denke nicht, dass die Lehre auch in ihrer Art und Weise so abgeschlossen sein kann, dass man sagen kann: Alles ist gut, wir müssen uns nicht mehr weiter darum kümmern. Hier in Offenbach befinden wir uns beispielsweise in einer Studienreform, bei der all diese Dinge auf dem Prüfstand sind. Das heißt nicht, man sollte alles anders machen. Aber man muss sich gewahr werden, was heute schon gut in der Lehre funktioniert und das beibehalten. Zusätzlich kommen neue Punkte dazu, die einem in der Arbeit als GestalterIn helfen, in den neuen Zusammenhängen bestehen zu können. Bestenfalls sogar den Ton angeben zu können!

Kompetenzen

Sprich, auf einmal kommen neue Kompetenzen dazu; welche neuen und alten Kernkompetenzen spielen denn aus Sicht eines Designtheoretikers eine besonders wichtige Rolle?

Vor allem die disziplinären Kompetenzen, also der bewusste Einsatz verschiedener Mittel, um gezielt Wirkungen zu erzeugen – egal in welchem Medium, ob 2D, 3D oder 4D. Zusätzlich muss man die eingesetzten Mittel und die verfolgten Ziele / Werte reflektieren können, kurz: es geht um Designkritik. Also sowohl im eigenen Entwurfsprozess, wenn es darum geht, in einem interaktiven Prozess zu überlegen, welche weiteren Schritte zu machen sind. Oder wenn es darum geht, durch Lösungsansätze das Problem im Prozess besser zu verstehen. Also das Verständnis des Einsatzes der Mittel, ein Bewusstsein über entstehende und rezipierte, also gewissermaßen eine Designrhetorik. Essenziell ist dabei das Wahrnehmen und Reflektieren kleiner Details, diese diskutieren zu können und sie dann auch wieder bewusst einzusetzen, um deren Wirkungen in neuen Kontexten auszuprobieren.

Also wäre der/die ultimative GestalterIn heute sowohl SpezialistIn als auch UniversalistIn?

Ja, ich würde sogar sagen: nicht nur heute, das war er eigentlich schon immer so! Es gehört eine holistische Bildung dazu, um die Wahrnehmung zu haben, dass man nicht nur an einem Teilbereich arbeitet, sondern sich der Kontexte bewusst ist. Interessiert man sich als GestalterIn beispielsweise für das autonome Fahren, gibt es neben dem eigentlichen Interface Einflüsse auf die Gesellschaft, auf Arbeitsplätze, auf unser Verständnis, mobil zu sein. Auf der anderen Seite muss man Könner in seinem Fachgebiet sein, um einschätzen zu können, welche Mittel zum Lösen einer Aufgabe geeignet sind. Gute Gestaltung ist also das Zwischenspiel von Könner– und Kennerschaft.

Designlehre

Das klingt nach einer ziemlich großen Herausforderung, auch für die Designlehre. Würden Sie das als eine der großen Herausforderung sehen und gibt es da noch andere?

Für mich ist das eine der zentralen Aufgaben der Lehre, die Themen und Angebote immer wieder daran anzupassen, was in den gesellschaftlichen Diskursen von Bedeutung ist. Je nachdem, welches Wissen, welche Techniken und welche Zusammenhänge zu einer bestimmten Zeit in den Vordergrund treten. Auch die Lehre, ihre Methoden und Inhalte ist Gestaltung, wie es schon Maser in „Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind“ herausarbeitete. Die Lehre ist nichts Feststehendes, sondern etwas, das sich verändert und weiterentwickelt. Gerade heute sollte man versuchen, mit den technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten, um sie zu kritisch zu reflektieren und auch inhaltlich mitgestalten zu können. Vor dem Hintergrund des Neuen sollten bestimmte Blickwinkel immer wieder geschärft werden, um die Ausbildung anzupassen. Dabei ist wichtig, die Bedürfnisse und Perspektiven der Studierenden zu berücksichtigen, aber auch die Erfahrungen der Lehrenden in den Veränderungsprozess mit einzubringen. Gemeinsam sollte man eine Art Leitplanken entwickeln, innerhalb derer sich die Angebote bewegen können.

Wäre es nicht eigentlich optimal zu sagen, wir machen aus so etwas ein Studienfach, also Designer, die sich überlegen wie Lehre gestaltet sein müsste?
Das wäre auf jeden Fall ein interessantes Thema! Die Frage ist, ob dadurch die Lehre nicht immer wieder in Frage gestellt wird, um etwas Neues auszuprobieren und man so nicht die Chance verpasst, dass sich die Dinge auch über einen längeren Zeitraum entwickeln können. Forschung im Sinne der Weiterentwicklung der Lehre ist absolut wichtig. Aber ob das ein Studienfach sein muss, in dem DesignausbildungsgestalterInnen ausgebildet werden? Ich denke, das macht keinen Sinn.
Ok, noch mal zur Vertiefung von Theorie und Praxis: Konstituiert sich Lehre aus Theorie oder wird die Lehre von der Praxis getrieben?

Das geschieht im Wechselspiel! Wenn man beides isoliert betrachtet, kommt in einem Fall reines Styling heraus: man befasst sich nur damit, wir die Dinge irgendwie anders möglich sein können. Wenn man sich nur im Bereich der Theorie bewegt, dann reflektiert und kritisiert man viel. Aber erst dadurch, dass man Neues schafft und es im Prozess immer wieder kritisch bewertet, also die Theorie in eine verbesserte Praxis überführt wird, können neuartige und sinnvolle Ergebnisse erreicht werden. Nur dem Zusammenspiel von Theorie und Praxis kann eine wirklich gute Qualität entspringen. Isoliert davon wird man aus meiner Sicht eher Schiffbruch erleiden.

Ethik & Moral

Sie haben scheinbar keinen Schiffbruch erlitten, sind im Prinzip ja auch genau so gefahren und bedienen beide Ebenen. Unsere letzte Frage ist aus einem rein persönlichen Interesse herausgestellt: Wie sollten wir mit dem Thema Ethik und Moral in der Designlehre umgehen?

Das sollte man vielschichtig beleuchten. Jeder muss auf Basis verschiedener Angebote, ob in der Theorie oder in der Praxis, ob im Bereich Konsum oder hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen seinen eigenen ethischen Kompass entwickeln, aber auch selbst immer wieder reflektieren. Vielleicht ist es möglich, für eine gewisse Zeit einen Konsens darüber zu erreichen. Aber es gibt kontinuierlich neues Wissen und neue Einsichten. Entsprechend geht es eher darum, die Kompetenz zu vermitteln, sich selbst infrage zu stellen und die Arbeitszusammenhänge und -ergebnisse zu reflektieren. Welche Wechselwirkung ergeben sich aus meiner Gestaltungshandlung? Basis ist ein Wissen über grundlegende Positionen, beispielsweise aus der Technikphilosophie oder der Technikethik, aber auch in Form von Wissen aus der Designgeschichte. Dieses Kontextwissen und die damit zusammenhängende Neugier sollte jedoch als eine Art Keim eingepflanzt werden, um adaptiv auf den Wandel zu reagieren und ihn kritisch zu begleiten. Es geht auch darum, Wertvorstellungen zu thematisieren, weiterzuentwickeln und sie über Gestaltung verfügbar zu machen.

Der/die kritikfähige Gestaltende ist also zentraler als der/die moralisch richtig Agierende?

Ja, das würde ich ganz klar so sehen. Man kennt es ja mittlerweile aus verschiedenen Analysen der Ökologiedebatte, dass gerade ein Moralisieren eher zu Überheblichkeit, zu einer Art normativem Lifestyle führen kann, der nichts anders gelten lässt. Moritz Gekeler hat dazu unter dem Titel „Konsumgut Nachhaltigkeit“ eine Dissertation verfasst. Darin analysiert er verschiedene Bedeutungsebenen und Erscheinungsformen und belegt in diesem Kontext sehr klar, dass sich das Nachhaltigkeit in erster Linie hinsichtlich bestimmter Lebensstile formiert und adressiert werden. Für mich ist die Fähigkeit zur Kritik – das konsequente Fragen und Infrage stellen – richtiger, als zu denken, man habe die höchsten Standards erreicht und sei damit hinsichtlich der Kritik von anderen Lebensentwürfen erhaben.

Wunderbar, ich glaube, das ist ein tolles Schlusswort. Ich bedanke mich recht herzlich bei Thilo Schwer, das war ein fantastisches Gesprächen, in dem wir viel lernen konnten.
Herzlich Dank.