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Manuel Dolderer

Mitgründer & Präsident
CODE University of Applied Sciences

Kurzbeschreibung

Wir sprechen heute mit Manuel Dolderer, dem Mitgründer und Präsidenten der CODE University in Berlin. 2016 gegründet, ist die CODE mittlerweile als private Hochschule akkreditiert und Ausbildungsort für über 350 Studierende. Manuel selbst hat an der Universität Witten/Herdecke Economics studiert und sich schon damals aktiv in der Studierendengesellschaft engagiert – einem Verein, der sich konkret für Bildungsgerechtigkeit einsetzt. Auch nach seinem Diplom im Jahr 2005 blieb er der Universität Witten/Herdecke zunächst treu und gründete gleich zwei Institute, bevor er 2012 als Managing Director zu praxisHochschule nach Köln wechselte – seiner letzten Station, ehe ihn der Gründergeist nach Berlin gerufen hat. Gemeinsam mit Thomas Bachem, der unter anderem sevenload und Lebenslauf.com gegründet und den Bundesverband Deutscher Startups ins Leben gerufen hat, arbeitet er seit mittlerweile drei Jahren an der Ausbildung der digitalen Pioniere von Morgen. Um das progressive Lernkonzept, das Thomas und Manuel ihrer Hochschule zugrunde gelegt haben und mit dem sie auch durchaus viral gegangen sind, soll es heute unter anderem gehen.

Das Gespräch mit Manuel Dolderer führte Dominik Volz am 12.12.2019 an der HTWG Konstanz (remote).

Lehr- & Lernkonzept

Die CODE University baut auf drei Studiengängen auf: Software Engineering, Interaction Design und Product Management. Wie kam es zu dieser Auswahl?

Der Grundgedanke dahinter war die Frage, was es in einem Team braucht, um sinnvolle digitale Produkte zu entwickeln. Dabei steht Produkt für ein Produktverständnis im weitesten Sinne – also für alles, das in Form eines Produkts, einer Dienstleistung oder eines Services einen Nutzen stiftet. Bei rein digitalen Produkten sehen wir einen Dreiklang: Es gibt die Entwicklung, die Software und teilweise auch Hardware umfasst, es gibt die Mensch-Maschine-Interaktion, die nach der Interaktion des Menschen mit dem Produkt fragt, und es gibt das Management, das das Produkt auf Geschäftsebene denkt und die Entwicklung organisiert. Diesen Dreiklang haben wir in Studiengänge gegossen, immer mit dem Hintergedanken, dass die Bereiche von Anfang an eng zusammenarbeiten sollen. Die Studierenden sollen erst gar nicht auf die Idee kommen, dass es reicht, sich auf die eigene Disziplin zu konzentrieren. Es sollen immer alle drei Disziplinen zusammenkommen müssen, um sinnvolle digitale Produkte zu entwickeln.

Das Design ist in diesem Modell die Schnittstelle zum User. Könnt ihr beobachten, dass die Studierenden des Interaction Designs sich auch über die klassischen Designtätigkeiten hinaus einbringen?
So wie ich unsere Studierenden erlebe, legen sie für sich das Feld des Interaction Designs schon unglaublich breit aus und setzen ganz unterschiedliche Fokusse. Manche sind komplett digital unterwegs und ignorieren das Analoge komplett, andere gehen dagegen gerade in analoge Hardware- und Softwarekomponenten rein. Es gibt Studierende, die sehr weit in die Zukunft schauen und sich eher die Frage stellen, wie Menschen in 20 Jahren mit Technologie interagieren, und andere, die sich sehr im Hier und Jetzt mit den aktuellen Fragen des Designs beschäftigen. Insofern sind im Interaction Design schon verschiedene Strömungen enthalten. Eine unserer infrastrukturellen Schwachstellen ist das kreative Arbeiten mit Materialien, denn wir haben noch keine Werkstätten, die wir unseren Studierenden zur Verfügung stellen können. Im nächsten Semester werden wir dahingehen aber ein bisschen was ausprobieren. Abgesehen davon bilden wir aber ein sehr breites Designverständnis ab.
Wie habt ihr festgestellt, dass euch das kreative Arbeiten mit Materialien als Komponente fehlt?
Das kam sehr stark von Studierenden, die schon Designerfahrung hatten und zum Teil auch schon Design studiert hatten. Der Wunsch wurde von ProfessorInnen aufgegriffen, die es an ihren alten Wirkungsstätten ebenfalls als sehr kreativ erlebt hatten, wenn es einen Raum gab, der nicht nur zum Lernen da war, sondern in dem auch handwerklich gearbeitet werden konnte.
Habt ihr bereits konkrete Vorstellungen, wie eine solche Werkstatt aussehen soll?
Wir werden mit den technologischen Aspekten beginnen, also Dingen wie 3D-Druckern, Nähmaschinen mit Interfaces oder Lötstationen. Danach schauen wir weiter, ob es in Richtung Holz- oder vielleicht auch Metallverarbeitung geht. Es wird jedenfalls auf der Hardwareseite beginnen.
Euer Bildungskonzept unterscheidet sich von dem staatlicher Hochschulen. Welche Vorteile siehst du im von euch forcierten erfahrungsbasierten Projektlernen im Vergleich zu anderen Konzepten?

Die Vorteile ergeben sich im Hinblick auf die Zielsetzung. Traditionelle Hochschule bilden bis heute sehr erfolgreich AkademikerInnen und WissenschaftlerInnen aus – also Menschen, die mit wissenschaftlichen Methoden Forschung betreiben. Was sie meines Erachtens weniger gut machen – und wo wir Vorteile haben – ist die Berufsausbildung. Die Universitäten ziehen ihr Selbstverständnis noch immer aus einer Zeit, in der nur ein kleiner Teil eines gesellschaftlichen Jahrgangs an die Hochschulen gegangen ist, um WissenschaftlerIn zu werden. Heute sind die Hochschulen aber der Standardweg der beruflichen Bildung. Und ich glaube, dass es andere Ansätze braucht, um Menschen auf eine schwer vorhersagbare berufliche Zukunft vorzubereiten, als um WissenschaftlerInnen auszubilden, die nach strengen Methoden in einem klaren Rahmen tätig werden. Für uns ist es ganz zentral, dass die Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis schon im Studium gelingt – dass also nicht nur theoretisches Wissen gesammelt wird, sondern, dass dieses Wissen umgehend in den Kontext praktischer Anwendung gebracht wird. Die Studierenden sollen ständig zwischen Wissenserwerb und Lernen auf der einen Seite, und praktischer Anwendung und praxisbezogenen Fragestellungen auf der anderen Seite oszillieren. Dieses Momentum versuchen wir herzustellen. Traditionellen Hochschulen gelingt das oft nicht, weil sie den praktischen Anwendungsteil typischerweise vernachlässigen.

Suchen eure Studierenden gezielt diesen hohen Praxisanteil, wenn sie sich für die CODE entscheiden?
Es ist ein Punkt, der ganz oft genannt wird. Bei uns studieren auch Menschen, die bereits ein abgeschlossenes Studium haben, teilweise in Informatik oder Computer Science. Sie sagen, dass ihnen genau das gefehlt hat. Sie haben ganz viel theoretisches Wissen erworben, aber zum Beispiel nie wirklich gelernt, in einem digitalen Produktentwicklungsteam zu arbeiten. Es zeigt sich, dass in der Praxis ganz andere Fragestellungen aufkommen, die man erst beantworten können muss, bevor man mit dem erworbenen theoretischem Wissen etwas anfangen kann. Diese Brücke zu bauen ist attraktiv.
Projektbezogene Bildungskonzepte sind manchmal schwer in Semesterstrukturen abzubilden. Wie gestaltet sich die Projektbasiertheit bei euch konkret aus?

Das erste Semester ist eine Heranführung, eine Orientierung und Vorbereitung. Ab dem zweiten Semester besteht jedes Semester aus drei Phasen. In der Projektvorbereitungsphase haben die Studierenden zwei Aufgaben: Zum einen sollen sie eine Fragestellung, ein Problem oder eine Projektidee finden, die sie fasziniert. Zum anderen sollen sie ein Team finden oder sich einem Team anschließen, dass diese Fragestellung bearbeitet. Das passiert in den ersten zwei Wochen des Semesters und wird begleitet, unterstützt und moderiert von ProfessorInnen. Zusätzlich sind externe Partner mit am Campus, die eigene Ideen vorstellen oder studentische Ideen unterstützen. Nach zwei Wochen sollen alle Studierenden ein Team und jedes Team ein Projekt haben. Die Projekte werden anhand einer Projektbeschreibung von ProfessorInnen abgesegnet und für den Rest des Semesters bearbeitet. In der Projektarbeitsphase wird diese Arbeit begleitet von Workshops, Seminaren, Learning Units und einem speziellen Format, das wir Guilds nennen. In Guild Meetings bekommen die Studierenden keinen Input, sondern präsentieren die Fragestellungen, an denen sie im Projekt gerade arbeiten. Die Meetings bilden im Grunde die Schnittstelle zwischen Projekterfahrung und Lernen. Dort kommen Menschen zusammen, die in ihren Teams jeweils mit ähnlichen Technologien an vergleichbaren Themen und Fragestellungen arbeiten, um dann hoffentlich voneinander zu lernen und sich zu unterstützen. Nach elf oder zwölf Wochen Projektarbeit beginnt die Präsentationsphase, die zwei Arten von Präsentationen beinhaltet: Externe Präsentationen auf einer Bühne, zu denen auch eine Öffentlichkeit eingeladen wird und interne Präsentationen, die als eine Art mündliche Prüfung unsere bevorzugte Prüfungsform sind. In den internen Prüfungen präsentieren Studierende, was ihre Aufgaben im Projekt waren und woran sie über das Semester gearbeitet haben. So wird ein Zusammenhang zwischen Projektarbeit und Modulkontext hergestellt. Die Studierenden demonstrieren, was sie aus einem speziellen Modul wie zum Beispiel “Navigational Design” im Projekt angewendet haben und müssen Fragen der ProfessorInnen beantworten. Auf diese Weise packen wir das Projektlernen in die Semesterstruktur. Es gibt für Studierende auch die Möglichkeit, Projekte über mehrere Semester fortzusetzen und teilweise werden Projekte übergeben. Aber grundsätzlich erwarten wir, dass die Projektarbeit im Zeitraum eines Semesters abgeschlossen wird.

Eingangs haben wir bereits gehört, dass sich die Projektteams disziplinübergreifend finden sollen. Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein? Müssen beispielsweise Grundlagen mitgegeben werden, damit die Studierenden miteinander reden können, oder gibt es andere Voraussetzungen für disziplinübergreifendes Lernen?
Am Anfang haben wir bereits vermutet und später noch viel stärker bestätigt bekommen, dass für das Arbeiten im Team bestimmte Fähigkeiten vorausgesetzt sein müssen. Dazu zählen beispielsweise die Fähigkeiten, sich gegenseitig Feedback geben zu können, sich als Team zu organisieren oder mit Konflikten umgehen zu können. Das ist ein Kernbestandteil des ersten Semesters und wird dort in verschiedenen Workshop-Formaten unter dem Schlagwort “Interpersonal Skills” bearbeitet. Ab dem zweiten Semester hat dann jedes Team einen Coach, der sich nicht mit dem Projekt, sondern mit dem Team beschäftigt. Alle zwei Wochen wird eine Art Supervisionsrunde eingezogen, in der sich das Team mit seiner Gemütslage, seinen Konflikten, Problemen und Verbesserungspotenzialen beschäftigt.

Science, Technology & Society-Programm

Neben dem erfahrungsbasierten Projektlernen bietet ihr ein Programm mit dem Namen “Science, Technology & Society”, kurz STS, an. Dort haben die Studierenden die Möglichkeit, sich mit SchriftstellterInnen, HistorikerInnen und KünsterlInnen zu beschäftigen und grundlegende philosophische, soziologische und ethische Konzepte zu diskutieren. Wie seid ihr auf diese Schnittstellen gekommen und warum sind sie für euch relevant?

Gerade in der Welt digitaler Produkte sehen wir immer wieder, wie Menschen mit ihrem technischen Sachverstand etwas entwickeln, das keinen echten gesellschaftlichen Nutzen stiftet. In den sozialen Medien gibt es eine Diskussion unter dem Hashtag “a code I’m still ashamed of”, in der Entwickler vergangene Projekte präsentieren, bei denen sie mitgewirkt haben, ohne genau zu verstehen, woran sie sich da eigentlich beteiligen – und über die sie sich heute schämen. Diesen Moment wollen wir vermeiden. Wir wollen, dass sich bei uns Menschen entwickeln, die ein technisches Verständnis und gleichzeitig einen moralischen Kompass haben, um reflektiert zu entscheiden, wie sie dieses Verständnis einsetzen. Es war uns wichtig, dass es einen Ort gibt, in dem das Spannungsfeld von Technologie und gesellschaftlicher Entwicklung beleuchtet werden kann. Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft ist letztlich der Dreiklang, der uns beschäftigt und der sich aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten lässt. Für uns ist es zentral, dass es diesen Diskurs gibt und dass die Studierenden während ihrer Ausbildung Teil dieses Diskurses werden.

Wie formt sich das Programm konkret aus? Entstehen dezidierte Diskurssituationen, angestoßen aus der Studierendenschaft oder von Mentoren?
Das STS ist ein eigenständiges Programm mit Professuren und Lehrstellen, die von sich aus Angebote machen. Kategorisiert werden die Angebote unter Lesen, Schreiben und Denken. Man muss also wissenschaftliche Texte oder Literatur lesen, man lernt eigene Texte, Essays und Arbeiten zu schreiben und am Ende gibt es ein Modul, dass sich “Critical Judgement” oder neuerdings “Making sense of technology” nennt. In diesem Modul soll man zeigen, dass man so etwas wie eine kritische Urteilskraft entwickelt hat, die man auf komplexe Fragestellungen anwenden kann. Die konkrete Ausgestaltung kann vom Lektüreseminar, über philosophische Hausarbeiten oder Theaterworkshops bis hin zu öffentlichen Vorträgen variieren. Wir lassen den Studierenden viele Freiheiten, damit sie ihr eigenes Interesse und ihre eigenen Ausdrucksformen mit einbringen können.
Gibt es forcierte Wechselwirkungen mit den Projekten oder habt ihr Tools, damit das STS-Programm nicht nur ein Anhang an das Projektstudium bleibt?
Das ist etwas, woran wir noch arbeiten. Der erste Ansatz ist, dass die ProfessorInnen aus dem STS-Programm eigene Projektideen einbringen, die sich eben im Spannungsfeld von Technologie und Gesellschaft bewegen. Ein Beispiel wäre ein Projekt unter dem Claim „What would it take?“. Dort wurde der Frage nachgegangen, was es bräuchte, damit alle Menschen mehr Chancen auf Data Privacy haben, also auf Datenschutz im Umgang mit digitalen Technologien. Es wurde diskutiert, wie Betriebssysteme, Setups, Apps oder Gadgets gestaltet werden können, um Menschen mehr Privatheit im Digitalen zu erlauben. Das sind logischerweise Projekte, die explizite Fragestellungen aus dem STS-Programm mitbringen. Im zweiten Ansatz versuchen wir zu beobachten, welche Projekte außerhalb des STS-Programms relevante Fragestellungen betreffen. Wir laden zum Austausch ein und ermutigen dazu, das Projekt aus einer gesellschaftlichen Perspektive zu beleuchten. Mit diesen beiden Ansätzen versuchen wir das STS-Programm und die Projekte zusammenzubringen. Es gibt aber immer noch viele Projekte, die gar nichts mit dem Programm zu tun haben, obwohl sie potenzielle Fragestellungen beinhalten. Die Wechselwirkungen müssen wir in Zukunft noch konsequenter und stärker forcieren.
Könnt ihr eine Tendenz ausmachen, welche Disziplin von den Studierenden am stärksten frequentiert wird und in euren Augen am relevantesten für euer Konzept ist?
Im weitesten Sinne die Technikphilosophie. Für viele ist die entscheidende Herausforderung, sich mit Blick auf die Möglichkeiten von Technologie ein Urteil darüber zu bilden, was sinnvoll ist und was nicht. Dabei kommen natürlich ethische, moralische und weitere philosophische Fragestellungen mit ins Spiel. Was wir in Zukunft noch stärker aufgreifen wollen ist die Techniksoziologie, sowie ein Stück weit mehr Psychologie. Letztere ist bereits im Kern von einzelnen Studiengängen verankert, vor allem im Product Management hinsichtlich User Psychology, aber auch im Design. Diese Aspekte wollen wir weiter ausbauen. Zurzeit sind es aber hauptsächlich die angesprochenen philosophischen, auch sprachphilosophischen also linguistischen Fragen, die wiederum eine große Nähe zu den Programmiersprachen und der Art haben, wie wir mit Technologie kommunizieren.
Gibt es dabei unterschiedliche Relevanzen zwischen den Studiengängen? Ist vielleicht für die einen die Technikphilosophie relevanter, und für die anderen die Soziologie oder Psychologie?
Ich habe dahingehend noch keine Unterschiede wahrgenommen. Das hat sicherlich auch ein Stück weit damit zu tun, dass wir die Studierenden nicht sofort in eine Schublade stecken. Natürlich müssen sie sich formal für einen der drei Studiengänge entscheiden, aber sie dürfen sich in der Modulwahl aus allen Vertiefungen frei bedienen und ihr ganz eigenes Profil zusammenstellen. So versuchen wir, die klare Trennung zwischen den Studiengängen ein bisschen aufzuheben und entsprechend fällt es schwer, Studierende in diesen Kategorien zu beobachten.
Gab es einen speziellen Grund für diese sehr offene Modulwahl, oder ist sie allgemeinen interdisziplinären Überlegungen entsprungen?

Interdisziplinär heißt erst mal nur, dass drei Disziplinen zusammenarbeiten. Die Tatsache, dass wir die Grenzen zwischen den Disziplinen von Anfang an aufweichen wollten, war von zwei Erkenntnissen getrieben: Zum einen gibt es in der Praxis nicht „das eine Profil“, vielmehr sind die Grenzen tatsächlich fließend. Hält man Software Engineering und Interaction Design nebeneinander, dann gibt es eine breite Schnittstelle von sehr technikorientierten Designern und sehr interfaceorientierten Entwicklern. Entsprechend erschien es uns unsinnig, eine klare Trennlinie zu ziehen. Zum anderen schöpfen die Studierenden aus der offenen Modulwahl sehr viele Freiheitsgrade hinsichtlich der eigenen Profilgestaltung. Die treibende Kraft hinter unserem Lernkonzept soll die studentische Neugier sein, und um diese zu fördern, muss die Freiheit in der Themenwahl möglichst groß sein.

Gute Bildung

Daran anschließend ganz persönlich gefragt: Was zeichnet für dich eine gute hochschulische Ausbildung aus?

Ganz fundamental betrachtet würde ich sagen, dass sie zu einer Art von Selbsterkenntnis führen sollte – also zu den Fragen danach, was ich eigentlich will, was ich werden möchte, welches Problem für mich relevant ist und mit welchen Themen ich mich beschäftigen möchte. Daraus lässt sich aus eigener Kraft ganz viel entwickeln. Was ich auf dem Weg dahin brauche ist Feedback, Anregung und Herausforderung – also viel Stimulation. Damit kann ich das finden, was mich wirklich interessiert und was ich in meinem Leben weitertreiben möchte. Hab ich das gefunden, geht es eigentlich nur noch um Methoden und Tools – insbesondere dazu, wie ich mir Dinge erarbeite, wie ich tatsächlich lerne, wie ich mich strukturiere und wie ich mir ein professionelles Netzwerk aufbaue. Letztere Fragen sind typischerweise schon Bestandteil von Curricula und Lernkonzepten – der Anfangspunkt hingegen fehlt ganz oft. Eben jenen halte ich aber für zentral und in der Hochschule eigentlich schon zu spät angesiedelt. Streng genommen sollte das etwas sein, dass bereits in der schulischen Laufbahn heranreift: Ich sollte am Ende der Schulzeit eine Idee davon haben, was ich kann und was ich will – und davon, wie es mit meinem Leben weitergehen soll. Hab ich diesen Punkt erreicht, brauche ich noch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Ich sollte verstehen, dass ich nicht ein Objekt eines Lebens um mich herum bin, sondern aktiv gestalten und etwas bewegen kann. Mit diesen Erkenntnissen kann ich eigenständig Entscheidungen treffen und mich selbstständig weiterentwickeln.

Kommen die Studierenden damit klar, sich anfangs erst einmal orientieren und explorieren zu müssen, nachdem sie bis dahin ein sehr stringentes System durchlaufen haben? Finden sie sich zurecht?
Teils teils. Es gibt Studierende, die uns genau deswegen suchen, finden und darin von Anfang an aufblühen. Typischerweise sind das Menschen, die schon einiges an Lebenserfahrung haben – die vielleicht auch schon einige Irrwege hinter sich, ein Studium abgebrochen oder schon gearbeitet haben. Die Menschen, die direkt von der Schule oder kurz danach zu uns kommen, tun sich damit regelmäßig schwer. Sie stellen oft fest, dass ihnen noch nie die Frage gestellt wurde, was sie eigentlich wollen. Unter anderem deswegen haben wir das erste Semester offener gestaltet und den Studierenden damit Zeit gegeben. Sie sollen sich auf diese Fragestellungen und die damit verbundenen Konsequenzen einlassen können, bevor sie in den Semesterauftaktphasen mit Projektideen konfrontiert werden und sich etwas suchen müssen, das sie interessiert. Das braucht eine gewisse Vorbereitung und Annäherung, die manchen einfach fällt und andern nur schwer gelingt.
Wie nehmt ihr die Studierenden mit, denen diese Annäherung eher schwerfällt?
Nach dem ersten Semester hat man die Wahl, ob man den Rest des Studiums nur noch projektbasiert und von der eigenen Neugierde getrieben gestalten will, oder ob man sich halbstrukturierte Zusammenhänge suchen will, in denen man stärker geführt wird. Im Software Engineering haben wir beispielsweise ein sogenanntes „Foundations Program“, das sich als etwas strukturiertere Heranführung an die Grundlagen der Softwareentwicklung an das erste Semester anschließen kann. Damit versuchen wir, eine schrittweise Annäherung zu ermöglichen. Zusätzlich nehmen wir ein bisschen Druck aus dem Studium, indem man nicht in Regelstudienzeit studieren muss, sondern sich im Preis inbegriffen auch drei bis vier Semester mehr Zeit lassen kann. Schlussendlich bekommen alle Studierenden persönliche MentorInnen, die sie idealerweise durch das gesamte Studium begleiten und hoffentlich als Sparrings- und DiskussionspartnerInnen hilfreich zur Seite stehen.
Glaubst du, dass die staatlichen Hochschulen vor Herausforderungen stehen, auch und gerade hinsichtlich der genannten Aspekte?

Ich glaube, dass sie vor massiven Herausforderungen stehen. Wir werden den gesellschaftlichen Trend zur Akademisierung mittelfristig nicht umkehren können. Die Hochschulen müssen sich also damit auseinandersetzen, dass sie der Standardweg der beruflichen Bildung geworden sind – und das berufliche Bildung heute etwas anderes heißt, als noch vor 50 Jahren. Wenn man heute Curricula entwickelt, werden immer noch Experten danach gefragt, was Menschen lernen müssen, um in 20 Jahren in einem bestimmten Beruf erfolgreich zu sein. Ich glaube, dass genau diese Vorhersage nicht mehr funktioniert. Denn die allermeisten Menschen können nicht einmal sagen, ob es den Beruf dann überhaupt noch geben, geschweige denn wie er aussehen wird. Folglich ist die Idee, dass man Menschen durch kleinteilige Wissensvermittlung auf Berufe vorbereiten kann, komplett hinfällig. Die Hochschulen müssen sich vielmehr fragen, was sie den Studierenden vor dem Hintergrund einer Technologieentwicklung, die massiven Einfluss auf Gesellschaft und Märkte haben wird, heute mitgeben können, das in 20 Jahren immer noch Gültigkeit hat. Die Antworten werden auf ganz fundamentale menschliche Fähigkeiten verweisen, die sich aber nicht ohne Weiteres in ein klassisches Curriculum übersetzen lassen: kreatives Problemlösen, kritische Urteilskraft, Kommunikation und Kollaboration, Unternehmergeist, die Idee von Selbstwirksamkeit, ein völlig vom Beruf unabhängiges Technikverständnis… all das sind Punkte, die zum Kern der curricularen Entwicklung werden müssten. Das setzt aber ein ganz neues Selbstverständnis von ProfessorInnen und eine ganz neue Art von Vermessung des Lernfortschritts voraus – und bedeutet insgesamt, dass sich Hochschulen fundamental verändern müssen, wenn sie dem gerecht werden wollen.

Waren diese strukturellen Gegebenheiten für dich auch der Grund, nicht an einer staatlichen Hochschule zu bleiben, sondern eine eigene Hochschule zu gründen?
Absolut. Das ist auch die Erkenntnis, die ich immer wieder habe, wenn ich Gespräche mit Vertretern staatlicher und existierender privater Hochschulen führe. Wir haben praktisch jede Woche Besuch von Vertretern anderer Hochschulen, die neugierig auf das sind, was wir machen – und die ganz schnell zur Erkenntnis kommen, dass es ungleich schwerer ist, so eine Veränderung in einem bestehenden System zu vollziehen, als auf einer grünen Wiese und mit der Chance, alle Mitwirkenden danach auszusuchen, ob sie eine Vision teilen.
Wenn du eine Empfehlung für eine staatliche Hochschule aussprechen müsstest, würde sie dann in Richtung eines STS-Programms ausfallen?

Das wäre ein wichtiger Punkt, den man wahrscheinlich auch schon an ganz vielen Hochschulen umsetzen könnte: Es sollte einen Ort für die Reflexion im Kontext von Gesellschaft und Technologie geben, unabhängig von Studienschwerpunkt und Semester. Es gibt aber auch noch weitere Punkte, die sich in meinen Augen bereits heute einführen lassen. Man kann – trotz aller Restriktionen durch Bologna, Hochschulgesetz und Regularien – die Freiheitsgrade systematisch erhöhen und damit den Studierenden ermöglichen, ihren eigenen Interessen noch stärker nachzugehen. Man kann viel nachdrücklicher versuchen, ProfessorInnen von der klassischen Lehre zu entlasten, indem man auf Flipped Classroom-Konzepte setzt und einfach zugibt, dass manche Vorlesungen bereits in viel besserer Qualität von Standford oder Harvard online verfügbar sind. Wenn man solche Ansätze konsequent in die eigenen Lernkonzepte integriert, dann entlastet man die ProfessorInnen und gibt ihnen Zeit, die sie auf andere Art und Weise mit Studierenden verbringen können. Es ließen sich also schon viele Aspekte einführen, auch ohne das System von heute auf morgen umzukrempeln. Dazu gehört nicht zuletzt auch die gerade schon umrissene “Digital Literacy”. Ich würde ganz klar sagen, dass heute kein Mensch mehr die Hochschule verlassen darf, ohne ein Grundverständnis für digitale Technologien zu haben – egal ob er oder sie Medizin, Jura oder Maschinenbau studiert. Die Studierenden müssen sich fragen können, welchen Einfluss die digitalen Technologien heute und in Zukunft auf sie, auf ihren Beruf und auf ihr soziales Umfeld haben. Diese Fragestellung müssen sie mitdenken und in Entscheidungen mit einfließen lassen können. Ich sehe das ganz deutlich bei meiner Frau, die als Kinderärztin in einem großen Krankenhaus arbeitet. Dort gibt es drei Typen von ÄrztInnen: die einen, die eigentlich gar nichts mit Technologie zu tun haben wollen; die anderen, die es als notwendiges Übel sehen, das sich nicht vermeiden lässt und das man irgendwie mitnehmen muss; und die Dritten, die sich voll darauf einlassen und sich systematisch damit beschäftigen, wie man Technologie nutzen kann, um besser in dem zu sein, was man tun will – nämlich PatientInnen versorgen. Dieses Mitdenken von Technologie als Werkzeug, um den eigenen Beruf zu verändern und besser zu machen, müssen heutzutage eigentlich alle Studierenden aus ihrem Studium mitnehmen.

Auch wenn das schon das Wort zum Sonntag war, würde ich abschließend noch gerne wissen, was ihr euch mit der CODE für das neue Jahr vorgenommen habt – mal abgesehen von den neuen Werkstätten?
Zum einen versuchen wir im Moment herauszufinden, ob und wie es gelingen kann, unser Lernkonzept in Weiterbildungszusammenhänge zu übertragen. Das prüfen wir vor allem deswegen, weil wir einen riesigen Bedarf bei Menschen sehen, die nicht noch mal studieren können, aber trotzdem digitale Grundkompetenzen erwerben müssen. Dort wollen wir nächstes Jahr erste Schritte gehen. Zum anderen werden wir uns definitiv stärker Gedanken darüber machen, wie wir Forschung bei uns verankern – und zwar Forschung in einer Art und Weise, die mit unserer Grundidee kompatibel ist. Die Forschung soll nicht hinter den verschlossenen Türen der ProfessorInnen stattfinden, sondern bereits im Bachelorstudium zugänglich für Studierende sein. Dafür werden wir Forschungsprojekte als ein Projektformat einführen. Sie sollen einer strengeren Methodik folgen und von ProfessorInnen geleitet werden, aber trotzdem einen Projektcharakter haben, an dem die Studierenden mitarbeiten können. Wir wollen prüfen, ob das eine Art von Forschung sein könnte, die sich gut in unser Lernkonzept integriert. Darüber hinaus gibt es noch Überlegungen dazu, wie wir Kooperationen mit anderen Bildungseinrichtung aufbauen können. Wir bekommen immer wieder Anfragen für solche Partnerschaften, hatten bisher aber nie wirklich eine Idee davon, wie sie aussehen könnten. Das wollen wir versuchen zu systematisieren. Und das letzte große Projekt für 2020 wird der Aufbau eines eigenen Inkubators sein. Damit wollen wir Studierenden ein Anschlusskonzept bieten, die zum Ende ihres Studiums ein Unternehmen gründen oder ein Start-up bauen wollen. Sie sollen weiterhin Teil der CODE Community sein und Unterstützung darin bekommen, aus ihren Projektideen tatsächlich erfolgreiche Unternehmen zu machen.
Das klingt nach genug spannenden Aufgaben für das kommende Jahr. Vielen Dank für das Gespräch und deine Antworten. Ich denke, wir haben sehr interessante Insights gewonnen, gerade hinsichtlich konkreter Lernkonzepte – dafür seid ihr ohne Zweifel ein sehr cooles Beispiel.
Das freut mich sehr. Vielen Dank für die Fragen, und ich bin sehr gespannt auf das Gesamtergebnis.