Manuel Dolderer
Mitgründer & Präsident
CODE University of Applied Sciences
Kurzbeschreibung
Das Gespräch mit Manuel Dolderer führte Dominik Volz am 12.12.2019 an der HTWG Konstanz (remote).
Lehr- & Lernkonzept
Der Grundgedanke dahinter war die Frage, was es in einem Team braucht, um sinnvolle digitale Produkte zu entwickeln. Dabei steht Produkt für ein Produktverständnis im weitesten Sinne – also für alles, das in Form eines Produkts, einer Dienstleistung oder eines Services einen Nutzen stiftet. Bei rein digitalen Produkten sehen wir einen Dreiklang: Es gibt die Entwicklung, die Software und teilweise auch Hardware umfasst, es gibt die Mensch-Maschine-Interaktion, die nach der Interaktion des Menschen mit dem Produkt fragt, und es gibt das Management, das das Produkt auf Geschäftsebene denkt und die Entwicklung organisiert. Diesen Dreiklang haben wir in Studiengänge gegossen, immer mit dem Hintergedanken, dass die Bereiche von Anfang an eng zusammenarbeiten sollen. Die Studierenden sollen erst gar nicht auf die Idee kommen, dass es reicht, sich auf die eigene Disziplin zu konzentrieren. Es sollen immer alle drei Disziplinen zusammenkommen müssen, um sinnvolle digitale Produkte zu entwickeln.
Die Vorteile ergeben sich im Hinblick auf die Zielsetzung. Traditionelle Hochschule bilden bis heute sehr erfolgreich AkademikerInnen und WissenschaftlerInnen aus – also Menschen, die mit wissenschaftlichen Methoden Forschung betreiben. Was sie meines Erachtens weniger gut machen – und wo wir Vorteile haben – ist die Berufsausbildung. Die Universitäten ziehen ihr Selbstverständnis noch immer aus einer Zeit, in der nur ein kleiner Teil eines gesellschaftlichen Jahrgangs an die Hochschulen gegangen ist, um WissenschaftlerIn zu werden. Heute sind die Hochschulen aber der Standardweg der beruflichen Bildung. Und ich glaube, dass es andere Ansätze braucht, um Menschen auf eine schwer vorhersagbare berufliche Zukunft vorzubereiten, als um WissenschaftlerInnen auszubilden, die nach strengen Methoden in einem klaren Rahmen tätig werden. Für uns ist es ganz zentral, dass die Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis schon im Studium gelingt – dass also nicht nur theoretisches Wissen gesammelt wird, sondern, dass dieses Wissen umgehend in den Kontext praktischer Anwendung gebracht wird. Die Studierenden sollen ständig zwischen Wissenserwerb und Lernen auf der einen Seite, und praktischer Anwendung und praxisbezogenen Fragestellungen auf der anderen Seite oszillieren. Dieses Momentum versuchen wir herzustellen. Traditionellen Hochschulen gelingt das oft nicht, weil sie den praktischen Anwendungsteil typischerweise vernachlässigen.
Das erste Semester ist eine Heranführung, eine Orientierung und Vorbereitung. Ab dem zweiten Semester besteht jedes Semester aus drei Phasen. In der Projektvorbereitungsphase haben die Studierenden zwei Aufgaben: Zum einen sollen sie eine Fragestellung, ein Problem oder eine Projektidee finden, die sie fasziniert. Zum anderen sollen sie ein Team finden oder sich einem Team anschließen, dass diese Fragestellung bearbeitet. Das passiert in den ersten zwei Wochen des Semesters und wird begleitet, unterstützt und moderiert von ProfessorInnen. Zusätzlich sind externe Partner mit am Campus, die eigene Ideen vorstellen oder studentische Ideen unterstützen. Nach zwei Wochen sollen alle Studierenden ein Team und jedes Team ein Projekt haben. Die Projekte werden anhand einer Projektbeschreibung von ProfessorInnen abgesegnet und für den Rest des Semesters bearbeitet. In der Projektarbeitsphase wird diese Arbeit begleitet von Workshops, Seminaren, Learning Units und einem speziellen Format, das wir Guilds nennen. In Guild Meetings bekommen die Studierenden keinen Input, sondern präsentieren die Fragestellungen, an denen sie im Projekt gerade arbeiten. Die Meetings bilden im Grunde die Schnittstelle zwischen Projekterfahrung und Lernen. Dort kommen Menschen zusammen, die in ihren Teams jeweils mit ähnlichen Technologien an vergleichbaren Themen und Fragestellungen arbeiten, um dann hoffentlich voneinander zu lernen und sich zu unterstützen. Nach elf oder zwölf Wochen Projektarbeit beginnt die Präsentationsphase, die zwei Arten von Präsentationen beinhaltet: Externe Präsentationen auf einer Bühne, zu denen auch eine Öffentlichkeit eingeladen wird und interne Präsentationen, die als eine Art mündliche Prüfung unsere bevorzugte Prüfungsform sind. In den internen Prüfungen präsentieren Studierende, was ihre Aufgaben im Projekt waren und woran sie über das Semester gearbeitet haben. So wird ein Zusammenhang zwischen Projektarbeit und Modulkontext hergestellt. Die Studierenden demonstrieren, was sie aus einem speziellen Modul wie zum Beispiel “Navigational Design” im Projekt angewendet haben und müssen Fragen der ProfessorInnen beantworten. Auf diese Weise packen wir das Projektlernen in die Semesterstruktur. Es gibt für Studierende auch die Möglichkeit, Projekte über mehrere Semester fortzusetzen und teilweise werden Projekte übergeben. Aber grundsätzlich erwarten wir, dass die Projektarbeit im Zeitraum eines Semesters abgeschlossen wird.
Science, Technology & Society-Programm
Neben dem erfahrungsbasierten Projektlernen bietet ihr ein Programm mit dem Namen “Science, Technology & Society”, kurz STS, an. Dort haben die Studierenden die Möglichkeit, sich mit SchriftstellterInnen, HistorikerInnen und KünsterlInnen zu beschäftigen und grundlegende philosophische, soziologische und ethische Konzepte zu diskutieren. Wie seid ihr auf diese Schnittstellen gekommen und warum sind sie für euch relevant?
Gerade in der Welt digitaler Produkte sehen wir immer wieder, wie Menschen mit ihrem technischen Sachverstand etwas entwickeln, das keinen echten gesellschaftlichen Nutzen stiftet. In den sozialen Medien gibt es eine Diskussion unter dem Hashtag “a code I’m still ashamed of”, in der Entwickler vergangene Projekte präsentieren, bei denen sie mitgewirkt haben, ohne genau zu verstehen, woran sie sich da eigentlich beteiligen – und über die sie sich heute schämen. Diesen Moment wollen wir vermeiden. Wir wollen, dass sich bei uns Menschen entwickeln, die ein technisches Verständnis und gleichzeitig einen moralischen Kompass haben, um reflektiert zu entscheiden, wie sie dieses Verständnis einsetzen. Es war uns wichtig, dass es einen Ort gibt, in dem das Spannungsfeld von Technologie und gesellschaftlicher Entwicklung beleuchtet werden kann. Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft ist letztlich der Dreiklang, der uns beschäftigt und der sich aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten lässt. Für uns ist es zentral, dass es diesen Diskurs gibt und dass die Studierenden während ihrer Ausbildung Teil dieses Diskurses werden.
Interdisziplinär heißt erst mal nur, dass drei Disziplinen zusammenarbeiten. Die Tatsache, dass wir die Grenzen zwischen den Disziplinen von Anfang an aufweichen wollten, war von zwei Erkenntnissen getrieben: Zum einen gibt es in der Praxis nicht „das eine Profil“, vielmehr sind die Grenzen tatsächlich fließend. Hält man Software Engineering und Interaction Design nebeneinander, dann gibt es eine breite Schnittstelle von sehr technikorientierten Designern und sehr interfaceorientierten Entwicklern. Entsprechend erschien es uns unsinnig, eine klare Trennlinie zu ziehen. Zum anderen schöpfen die Studierenden aus der offenen Modulwahl sehr viele Freiheitsgrade hinsichtlich der eigenen Profilgestaltung. Die treibende Kraft hinter unserem Lernkonzept soll die studentische Neugier sein, und um diese zu fördern, muss die Freiheit in der Themenwahl möglichst groß sein.
Gute Bildung
Ganz fundamental betrachtet würde ich sagen, dass sie zu einer Art von Selbsterkenntnis führen sollte – also zu den Fragen danach, was ich eigentlich will, was ich werden möchte, welches Problem für mich relevant ist und mit welchen Themen ich mich beschäftigen möchte. Daraus lässt sich aus eigener Kraft ganz viel entwickeln. Was ich auf dem Weg dahin brauche ist Feedback, Anregung und Herausforderung – also viel Stimulation. Damit kann ich das finden, was mich wirklich interessiert und was ich in meinem Leben weitertreiben möchte. Hab ich das gefunden, geht es eigentlich nur noch um Methoden und Tools – insbesondere dazu, wie ich mir Dinge erarbeite, wie ich tatsächlich lerne, wie ich mich strukturiere und wie ich mir ein professionelles Netzwerk aufbaue. Letztere Fragen sind typischerweise schon Bestandteil von Curricula und Lernkonzepten – der Anfangspunkt hingegen fehlt ganz oft. Eben jenen halte ich aber für zentral und in der Hochschule eigentlich schon zu spät angesiedelt. Streng genommen sollte das etwas sein, dass bereits in der schulischen Laufbahn heranreift: Ich sollte am Ende der Schulzeit eine Idee davon haben, was ich kann und was ich will – und davon, wie es mit meinem Leben weitergehen soll. Hab ich diesen Punkt erreicht, brauche ich noch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Ich sollte verstehen, dass ich nicht ein Objekt eines Lebens um mich herum bin, sondern aktiv gestalten und etwas bewegen kann. Mit diesen Erkenntnissen kann ich eigenständig Entscheidungen treffen und mich selbstständig weiterentwickeln.
Ich glaube, dass sie vor massiven Herausforderungen stehen. Wir werden den gesellschaftlichen Trend zur Akademisierung mittelfristig nicht umkehren können. Die Hochschulen müssen sich also damit auseinandersetzen, dass sie der Standardweg der beruflichen Bildung geworden sind – und das berufliche Bildung heute etwas anderes heißt, als noch vor 50 Jahren. Wenn man heute Curricula entwickelt, werden immer noch Experten danach gefragt, was Menschen lernen müssen, um in 20 Jahren in einem bestimmten Beruf erfolgreich zu sein. Ich glaube, dass genau diese Vorhersage nicht mehr funktioniert. Denn die allermeisten Menschen können nicht einmal sagen, ob es den Beruf dann überhaupt noch geben, geschweige denn wie er aussehen wird. Folglich ist die Idee, dass man Menschen durch kleinteilige Wissensvermittlung auf Berufe vorbereiten kann, komplett hinfällig. Die Hochschulen müssen sich vielmehr fragen, was sie den Studierenden vor dem Hintergrund einer Technologieentwicklung, die massiven Einfluss auf Gesellschaft und Märkte haben wird, heute mitgeben können, das in 20 Jahren immer noch Gültigkeit hat. Die Antworten werden auf ganz fundamentale menschliche Fähigkeiten verweisen, die sich aber nicht ohne Weiteres in ein klassisches Curriculum übersetzen lassen: kreatives Problemlösen, kritische Urteilskraft, Kommunikation und Kollaboration, Unternehmergeist, die Idee von Selbstwirksamkeit, ein völlig vom Beruf unabhängiges Technikverständnis… all das sind Punkte, die zum Kern der curricularen Entwicklung werden müssten. Das setzt aber ein ganz neues Selbstverständnis von ProfessorInnen und eine ganz neue Art von Vermessung des Lernfortschritts voraus – und bedeutet insgesamt, dass sich Hochschulen fundamental verändern müssen, wenn sie dem gerecht werden wollen.
Das wäre ein wichtiger Punkt, den man wahrscheinlich auch schon an ganz vielen Hochschulen umsetzen könnte: Es sollte einen Ort für die Reflexion im Kontext von Gesellschaft und Technologie geben, unabhängig von Studienschwerpunkt und Semester. Es gibt aber auch noch weitere Punkte, die sich in meinen Augen bereits heute einführen lassen. Man kann – trotz aller Restriktionen durch Bologna, Hochschulgesetz und Regularien – die Freiheitsgrade systematisch erhöhen und damit den Studierenden ermöglichen, ihren eigenen Interessen noch stärker nachzugehen. Man kann viel nachdrücklicher versuchen, ProfessorInnen von der klassischen Lehre zu entlasten, indem man auf Flipped Classroom-Konzepte setzt und einfach zugibt, dass manche Vorlesungen bereits in viel besserer Qualität von Standford oder Harvard online verfügbar sind. Wenn man solche Ansätze konsequent in die eigenen Lernkonzepte integriert, dann entlastet man die ProfessorInnen und gibt ihnen Zeit, die sie auf andere Art und Weise mit Studierenden verbringen können. Es ließen sich also schon viele Aspekte einführen, auch ohne das System von heute auf morgen umzukrempeln. Dazu gehört nicht zuletzt auch die gerade schon umrissene “Digital Literacy”. Ich würde ganz klar sagen, dass heute kein Mensch mehr die Hochschule verlassen darf, ohne ein Grundverständnis für digitale Technologien zu haben – egal ob er oder sie Medizin, Jura oder Maschinenbau studiert. Die Studierenden müssen sich fragen können, welchen Einfluss die digitalen Technologien heute und in Zukunft auf sie, auf ihren Beruf und auf ihr soziales Umfeld haben. Diese Fragestellung müssen sie mitdenken und in Entscheidungen mit einfließen lassen können. Ich sehe das ganz deutlich bei meiner Frau, die als Kinderärztin in einem großen Krankenhaus arbeitet. Dort gibt es drei Typen von ÄrztInnen: die einen, die eigentlich gar nichts mit Technologie zu tun haben wollen; die anderen, die es als notwendiges Übel sehen, das sich nicht vermeiden lässt und das man irgendwie mitnehmen muss; und die Dritten, die sich voll darauf einlassen und sich systematisch damit beschäftigen, wie man Technologie nutzen kann, um besser in dem zu sein, was man tun will – nämlich PatientInnen versorgen. Dieses Mitdenken von Technologie als Werkzeug, um den eigenen Beruf zu verändern und besser zu machen, müssen heutzutage eigentlich alle Studierenden aus ihrem Studium mitnehmen.